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Sport
26.05.2024

Flynn – das Ausnahmetalent aus Ebmatingen

Flynn Thomas ist anders als die anderen Jugendlichen.
Flynn Thomas ist anders als die anderen Jugendlichen. Bild: Thomas Renggli
Er leidet am Asperger-Syndrom. Im Tennis ist er eine Klasse für sich. Flynn Thomas (15) aus Ebmatingen fegt die Gegner in seiner Altersklasse vom Platz. Nun will er nach Wimbledon.

Biel ist nicht Wimbledon. Doch wie Flynn Thomas (15) auf den Sandplätzen des Leistungszentrums von Swiss Tennis die Bälle ins Feld wuchtet, erinnert eher an die grosse Tenniswelt als an das beschauliche Berner Seeland: Vorhand, Rückhand, Smash – Game, Set und Match!

Der Ebmatinger gehört zu den hoffnungsvollsten Tennistalenten des Landes. Im August 2022 führte er das Schweizer Team an der U14-WM in Tschechien mit 10 Siegen in 11 Spielen zum Titelgewinn. Im Jahrgang 2008 belegt er aktuell den vierten Platz der Weltrangliste. «Einen wie ihn habe ich in diesem Alter noch nie gesehen.» Dies sagt Robin Roshardt, früherer Profi, der einst die prestigeträchtige Orange Bowl in Florida gewonnen hatte. Später trainierte er Flynn Thomas in der eigenen Tennis-Academy auf der Zürcher Sportanlage Lengg.

Zwei hochtalentierte Schwestern

Doch Flynn ist anders als die anderen Jugendlichen. Erst mit vier Jahren begann er zu sprechen, in Kindergarten und Primarschule zeigte er sich verhaltensauffällig und aggressiv. Diagnose: Asperger-Syndrom, eine Erkrankung innerhalb des Autismusspektrums.

Flynn sitzt am runden Esstisch zuhause in der schönen Maisonette-Wohnung. Neben ihm die Schwestern Hannah (17) und Leonie (19). «Sie sind seine Beschützerinnen», sagt die Mutter, die sich alleine um Haus und Familie kümmert.

Beide Mädchen waren ebenfalls talentierte Sportlerinnen – Leonie gehört im Squash zur nationalen Spitze, Hannah kämpfte als Eiskunstläuferin um die Schweizer Meisterschaft. Doch drei Sportkarrieren konnte sich die Mutter nicht leisten.

Seine Krankheit macht Flynn zum Sonderfall – auch im Alltag. Von der Volksschule wurde er verwiesen. Auch an privaten Bildungsinstituten wurde es nicht besser. Die Schule sei definitiv nichts für ihn, sagt seine Mutter. Flynn kann täglich höchstens zwei Stunden lernen: «Sonst wird er ausfällig oder beginnt zu zittern», so die Mutter.

Flynn habe die Lehrer und die anderen Kinder nicht ertragen, und sie ihn auch nicht: «Ich glaube, er ist das erste Kind in der Schweiz seit 50 Jahren, das als nicht beschulbar gilt.»

Englisch in zwei Wochen gelernt

Doch Flynn besitzt andere herausragende Qualitäten. Wenn ihn ein Thema interessiert, stürzt er sich mit all seiner Energie in die Materie. Die englische Sprache lernte er innerhalb von zwei Wochen. Mit neun flog er erstmals ohne elterliche Begleitung – und als 13-Jähriger lebte er alleine an der Tennis-Akademie von Francesco Cinà in Palermo.

Und auf dem Tennisplatz war er seinen Konkurrenten meistens ein paar Schritte voraus. Weil seine Mutter wollte, dass er auch das Verlieren lernte, meldete sie ihn als 13-Jähriger an ein Turnier für Erwachsene an. Es war ein kläglicher Versuch. Flynn fegte alle Gegner vom Platz.

Die Gewohnheiten des Sieges in Verbindung mit seiner Krankheit hat aber auch eine negative Seite: «Neben dem Platz ist Flynn ein Lämmli, auf dem Platz kann er heftig reagieren», sagt seine Mutter. Flynn habe den Verlauf der Ballwechsel in der Regel schon im Kopf, bevor der Punkt gespielt sei. Hält sich der Gegner dann aber nicht an den Plan, kann der junge Mann die Fassung verlieren – komplett. So ist er selber sein härtester Gegner. Deshalb wurde er auch schon mehrere Monate gesperrt. Seit er mehr im Ausland spielt, wo er und seine Geschichte weniger bekannt sind, habe sich die Situation bessert, sagt die Mutter. Strafpunkte kassiere Flynn regelmässig. Es sei aber interessant, dass es ihm gelinge, sich zu beherrschen, wenn der Ausschluss drohe.

Das Racket des Grossvaters gefunden

Dass Flynn im Alter von fünf Jahren mit dem Tennissport begonnen hat, war Zufall. In der Waschküche am früheren Wohnort in Kriens fand er das Racket des Grossvaters und fragte: «Was ist das?». Auf den 6. Geburtstag wünschte er sich eine Tennisstunde. Mutter Sandra brachte ihn zum TC Horw zu Trainer Martin Vacek – und freute sich über die Abwechslung: «Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich eine Stunde für mich hatte.» Als sie ihren Sohn abholte, stand sie einem völlig perplexem Tennislehrer gegenüber: «Ihr Sohn ist der Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie gesehen.»

Reicht es für Wimbledon?

Ab diesem Moment schlug Flynn die Bälle mit einer Präzision übers Netz, dass der Konkurrenz Hören und Sehen verging – und ihm die Sparringpartnerausgingen.

Nun will Flynn Thomas erstmals auch an einem Grand-Slam-Turnier für Furore sorgen. An den French Open dürfte er noch keinen Startplatz erhalten, aber in Wimbledon in rund einem Monat könnte es klappen.

Ob Flynn Thomas seine Ziele erreichen wird? Eine Antwort werden die nächsten Jahre geben – wenn er sich an der Schwelle zwischen Junioren- und Erwachsenen-Tennis in ein Umfeld mit noch grösserer Leistungsdichte beweisen muss.

In seiner Zürcher Heimat ist er auf jeden Fall schon jetzt ein kleiner Star. Im Tennis Club Maur haben sich seine Anhänger zu den «Fans 4 Flynn» zusammengeschlossen. Und wenn es mit der grossen Karriere trotzdem nichts wird, weiss der SchweizerTennisprinz, wo er garantiert immer punktet: bei Mutter Sandra und seinen Schwestern Leonie und Hannah.

Thomas Renggli